(20. Mai 2022) – Ursprünglich wollte ich nach Capri. Eh klar, nach Capri wollen alle. Es ist DIE super-mondäne, Just-call-it-magic-, La-dolce-Vita und One-Limoncello-please-Insel der Superreichen und -schönen – zumindest stelle ich mir sie so vor. Von meinem Vorhaben weiche ich aber bereits in Neapel ab; Sophia, die Vermieterin meiner AirBnB-Dachterassenwohnung in der Nähe des Hauptbahnhofs, fragt mich kurz nach meiner Ankunft nach weiteren Plänen. Als ich Capri erwähne, meint sie, die Insel sei „totally overrated“ und ich solle mir viel lieber Procida anschauen.
Procida? Noch nie gehört, to be honest. Aber die beiden „Argumente“, Procida wäre a) wesentlich billiger und b) obendrein gerade „Kulturhauptstadt“ (ja, die gesamte Insel ist Italienische Kulturhauptstadt 2022), überzeugen mich! La cultura non isola! Kultur isoliert nicht! Und überhaupt schließt sich hier der Vulkankraterkreis: Procida ist geologisch eng mit den Phlegräischen Feldern verwandt, also eine Insel aus Vulkangestein.
Zitrangen und Oronen 😉
Das Eiland ist entzückend, ganz klein und überschaubar, zu Fuß easy von einem Ende zum anderen abzugehen, aber auch mit den kostenlosen Kulturhauptstadt-Bussen superschnell zu erkunden. Lediglich 4 Quadratkilometer groß ist sie, aber dennoch überwältigend für mich. Überall wachsen Orangen und Zitronen, auch in dem herzigen Garten, in dem meine grün-gelbe „Casetta“ (ich würde es mit „Gartenhütte“ übersetzen) steht. Diese ist perfekt eingerichtet und verfügt über Dusche, WC und WLAN. Täglich werde ich von den Hühnern geweckt (Eier bekomme ich ebenfalls) und auch zwei, drei, manchmal mehr … Katzen kommen mich besuchen, um mich zu beobachten, sich streicheln zu lassen oder Leckerlis abzustauben. Ich nenne Procida ab sofort auch die “Katzeninsel“.
Sie sind überall, diese Katzen. Auch an den Häfen. Vor allem am Hafen der Hauptstadt dominiert der Charme der 50er Jahre. Als wäre die Zeit in diesem Jahrzehnt stehen geblieben: Als Hotspot im internationalen Tourismus ist die Insel noch nicht etabliert, die Fischer sitzen am Kai und flicken ihre Netze und die bunten Häuser und engen Gässchen, die man teils nur per Stufen auf- und abgehen kann, verleihen der „Kulturhauptstadt“ ein Flair, das ich sonst noch nirgendwo erlebt habe. Die zartrosa Fähnchen, die die „capitale italiana della cultura“ bewerben, wehen von allen Balkonen und flattern aus allen Fenstern der wunderbaren alten Häuser und Villen.
An einem der Nachmittage, die ich auf der Insel verbringe, besuche ich das ursprüngliche Jagdschloss Castello d’Avalos, das bis vor ca. 30 Jahren – ähnlich Alcatraz – als Gefängnis für Schwerverbrecher verwendet worden ist. Die Architektur bringt mich zum Staunen (vor allem die wuchtigen Querverbauungen und – bindungen aus Holz), die zerschlissenen Kerker-Kleidungen und alten Schuhe bringen mich jedoch zum Erschaudern. Es ist ein bisschen spooky, schließlich bin ich ziemlich allein in dem Palazzo unterwegs. Auch rund um das dicht und grün überwucherte Kastell bewege ich mich, ohne jemanden zu sehen, übersteige illegalerweise auch gesperrte Treppen, um weiter ins Dickicht vorzudringen. Mein Entdeckergeist ist geweckt. Ich kann nicht anders. Irgendwann werde ich aber wieder hungrig und trete meinen Rückweg – mit einem Abstecher bei der glutenfreien Konditorei – an.
La cultura non isola
Ich komme mir verwegen vor, nicht nur, weil ich Betreten verboten!-Schilder missachte, sondern auch weil ich einen von Luca Venturas Capri-Krimis lese – und das auf Procida! Ich trau mich ganz schön was, oder? 😉
Die Krimi-Kultur scheint auf den Inseln im Golf von Neapel jedenfalls weit verbreitet zu sein. Mittlerweile finden die fiktiven Verbrechen ja in beinahe jeder Region, in jedem Bundesland, sogar in jeder kleinen Ortschaft dieser Erde statt. Ich denke darüber nach, ob ich vielleicht eine Tullnerfeld- oder Zwentendorf-Krimi-Reihe starten soll. Sollte es dafür Interessenten geben, bitte melden, ich überlege mir einen Plot. 😂 Wie gesagt, la cultura non isola!